10.05.2019
Rohmessdaten vor dem saarländischen Verfassungsgericht


Am 09.05.2019 konnten wir die mündliche Verhandlung vor dem saarländischen Verfassungsgerichtshof in der Sache Lv 7/17 verfolgen.

Das Gericht leitete die Verhandlung mit dem Hinweis ein, dass

„Wer das Recht hat sich zu wehren, der muss auch die Möglichkeit haben sich zu wehren.“

Infolge dessen gehe es in der Verhandlung nicht um eine spezielle Messung, sondern um die generelle Frage, ob

Gehört wurden die Sachverständigen Dr. R., von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB), Dr. P., Sachverständiger für Unfallrekonstruktion und Verkehrsmesstechnik und Dr. S., Inhaber des Lehrstuhls für Messtechnik an der Universität des Saarlandes.

Der Sachverständige R. legte für die PTB dar, dass Messsicherheit im Sinne des MessEG immer dann gegeben sei, wenn das Messgerät „metrologisch rückgeführt“ sei. Dafür werde ein Konformitätsbewertungsverfahren angewandt. Im Zuge dessen werde überprüft, ob das Messgerät empfindlich gegen mechanische, thermische und elektromagnetische Einflüsse sei. Zudem werde die Software geprüft. Dann werde gleichzeitig mit einem Referenzmessgerät und mit dem rückzuführenden Messgerät die Geschwindigkeit gemessen. Stimmten die beiden gemessenen Geschwindigkeiten mit ausreichender statistischer Sicherheit überein, gelte das Messgerät als „metrologisch rückgeführt“.

Durch die Auswertung von Rohmessdaten gewinne man keine zusätzliche Messsicherheit im Sinne des MessEG, da man dafür entweder die Rohmessdaten durch den selben Auswertealgorithmus verarbeiten, oder einen eigenen Auswertealgorithmus „metrologisch rückführen lassen“ müsse.

Der aktuelle Zustand eines Messgeräts werde auf jeden Fall einmal jährlich im Zuge der Eichung verifiziert. Bei Bedarf werde zudem eine Befundprüfung durchgeführt. Auf beharrliches Nachfragen des Vorsitzenden räumte der Sachverständige R. ein, dass sich mit der Befundprüfung nur der aktuelle Zustand des Messgeräts unter den aktuellen Umweltbedingungen überprüfen lasse, nicht aber ein unbekannter Zustand unter unbekannten Umweltbedingungen zu einem früheren Zeitpunkt.

Der Verkehrssachverständige P. berief sich auf die Sachverständigenordnungen der Industrie- und Handelskammer und der Handwerkskammer sowie einen Beschluss der Bundesverfassungsgerichts (Az. 1 BvR 1398/93, Beschluss vom 11. Oktober 1994) zu den Pflichten eines Sachverständigen. Demnach müsse ein Sachverständiger nach dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik bewerten und die Anknüpfungstatsachen für seine Bewertung offenlegen. Die Auswertung der Rohmessdaten mit dem Wissen eines Ingenieurs stelle die eigentliche sachverständige Leistung dar. Diese sachverständige Überprüfung im Nachhinein habe dazu geführt, dass über die Jahre bei fast allen Messgeräten Fehler entdeckt worden sind, die durch Änderungen an der Hard- oder Software der Messgeräte teilweise behoben wurden. Daher sei die Speicherung von Rohmessdaten unerlässlich. Sie ermögliche überhaupt erst das Auffinden von Fehlern oder von Hinweisen auf Fehler.
Der Sachverständige S. führte aus Sicht der universitären Lehre aus, dass die Grundsätze des wissenschaftlichen Arbeitens bereits verböten, Rohmessdaten zu löschen. Weiterhin sei die Konformitätsbewertung grundsätzlich geeignet, eine gewisse Messsicherheit zu gewährleisten. Der Hersteller habe vor der Konformitätsbewertung eine bestimmte Verfahrensweise entwickelt, die Rohmessdaten aufzunehmen und auszuwerten („Modell“). Für dieses Modell sei die korrekte Funktion aber nur unter den beobachteten Randbedingungen (Beispiele: bestimmter Temperaturbereich, kein Elektrosmog, gleichmäßige Beleuchtungsbedingungen) sichergestellt. Von daher müssten bereits zur besseren Klärung der während einer einzelnen Messung herrschenden Randbedingungen die Rohmessdaten gespeichert werden. Die Untersuchung im Einzelfall sollte nicht mit dem geprüften Modell des Herstellers erfolgen, sondern durch eine unabhängige Betrachtungsweise, d. h. ein zweites „Modell“ eines Sachverständigen. Über dessen Aussagekraft müsse dann im Streitfall durch Vergleich mit dem geprüften Modell des Herstellers entschieden werden.

Insgesamt verwundert es damit nicht mehr, dass die PTB neue Effekte (oder Randbedingungen), wie etwa den Einfluss von LEDs auf die Messungen mit dem Messgerät ES3.0 (R. Bladt et al., Optische Täuschung – schneller dank LED) nicht anerkennt. Während bei diesem beispielhaften Problem die Sachverständigen ihre Anknüpfungstatsachen, Schlussfolgerungen und Befunde in der Veröffentlichung ausführlich dokumentiert haben, beschränkte sich die PTB auf den Befund „wir haben keine Abweichungen festgestellt“.

Durch die sachverständige Bewertung wurden also „erkennbar richtige“ Rohmessdaten von „erkennbar fehlerhaften“ Rohmessdaten getrennt und so zwei unterschiedliche Geschwindigkeiten im Signal gefunden, während die PTB die Rohmessdaten nur erneut durch die Auswertelogik des Messgerätes laufen ließ. Dadurch muss zwangsläufig immer dieselbe Geschwindigkeit wie die des Messgerätes ermittelt werden – alles andere wäre ein Wunder. Die einmal falsch generierte Geschwindigkeit kann so niemals gefunden werden.

D. h. nachdem die Messwertverfälschung durch LEDs nachgewiesen worden ist (R. Bladt et al., Optische Täuschung – schneller dank LED), hat die PTB es entweder nicht geschafft, die Rahmenbedingungen für den Fehler zu rekonstruieren, oder sie hat den bewiesenermaßen fehlerhaften Algorithmus erneut auf die Rohmessdaten angewandt und war daher nicht in der Lage die Fehlmessung zu erkennen.

Die entstandene Diskussion zeigt erneut, dass die unabhängige Begutachtung von Geschwindigkeitsmessungen im Straßenverkehr durch Sachverständige notwendig ist. Auch wenn die Methode (das „Modell“) zunächst verifiziert werden muss, erlaubt die nachträgliche Auswertung der Rohmessdaten in jedem Einzelfall einen erheblichen Erkenntnisgewinn und eine gezielte Suche nach Hinweisen auf fehlerhafte Messergebnisse. Die tiefere Analyse dieser Hinweise beweist oder widerlegt den Messwert oder wirft berechtigte Zweifel am korrekten Messwert auf.

Damit ermöglicht eine solche Suche gezielte Fragestellungen zu fragwürdigen Signalen und liefert dem Betroffenen damit erst die Möglichkeit fundierte Beweisanträge zu formulieren.

Übrigens hat VUT bislang in zwei Fällen die Möglichkeit gehabt bei Piezosensoren die Rohmessdaten, welche hier nur bei der Eichung abgespeichert werden, zu prüfen.

In beiden Fällen konnte die Verwendung defekter Sensoren nachgewiesen werden, was einmal zur Einstellung und einmal zur wesentlichen Reduzierung des Tatvorwurfes geführt hat.

Warum dies der Eichbehörde nicht aufgefallen ist? Der "Prüfalgorithmus" (hier die Eichvorschrift) hat eine entsprechende Prüfung nicht verlangt!