Eine echte Überprüfung individueller Messergebnisse ist ohne Rohmessdaten nicht möglich.
Die PTB ist bekanntlich anderer Ansicht und zwingt daher Sachverständige zu verzweifelten Versuchen, alternative Prüfmöglichkeiten für Messverfahren ohne abgespeicherte Rohmessdaten zu finden.
In dieser Situation haben einige sachverständige Kollegen nun einen Vorschlag veröffentlicht, wie Poliscan FM1 Messungen angeblich geprüft werden könnten.[i]
Ihr Versuch überzeugt leider nicht.
Zusammenfassend läuft die Prüfung der Sachverständigengruppe darauf hinaus, das Beweisbild dahingehend fotogrammetrisch auszuwerten, ob die Fahrzeugposition der angegebenen Position laut Positionsdaten entspricht.
Dabei ergeben sich jedoch grundsätzliche Lücken bezüglich der Prämissen der Berechnung:
Die Extrapolation ab Messbeginn ist an keiner Stelle belegt. Auch in [i] wird keine Quelle für diese Vermutung angegeben. Hier sollte immer bedacht werden, dass – soweit bekannt – niemand außerhalb der Herstellerfirma Vitronic Einblick in den Quellcode hatte. Formulierungen wie „Bekannt ist, dass Poliscan FM1 den Fotopunkt (VehiclePosition) berechnet.“ sind leider inhaltsleer. Natürlich berechnet das Messgerät diesen Wert. Die wichtige Frage ist jedoch, wie.
Stillschweigend gehen die Autoren von einer dem Messgerät genau bekannten Verzögerung bei der Bildfertigung aus, die dann auch in die Positionsangabe einfließen soll. Es ist nicht ersichtlich, wie dies unterstellt werden kann und wie genau die Bildfertigung erfolgt. Beispielsweise führt ein Fehler von 0,01 s bei 108 km/h schon zu einem Abbildungsfehler von 30 cm.
Die PTB schrieb, bezogen auf Altgeräte in [ii], dass dort bei defekten Geräten (zusätzliche) Verzögerungen von 0,10 bis 0,15 s aufgetreten seien. Wie groß die Verzögerungen bei der Bildfertigung dann bei intakten Geräten waren, ist nicht ersichtlich.
Bei PoliScan-Softwareversionen älter als Version 1.5.5 konnte die berechnete Verzögerung größer als 0,75 s sein, ab 1.5.5 nur noch kleiner als dieser Wert. Wie groß die Verzögerung bei Poliscan FM1 maximal sein kann und wie stark diese variiert, ist nicht bekannt.
In der Berechnung wird zugrunde gelegt, dass der korrekte Reflexionspunkt auf dem Kennzeichen läge, also sich die Abstände darauf beziehen würden. Auch dies ist nicht dokumentiert. Wiederum fehlen hier Kenntnisse über die internen Abläufe im Messgerät bzw. sind eventuelle Quellen für solche Kenntnisse nicht belegt oder benannt. Vielmehr ist festzustellen, dass die PTB dieser Prämisse, jedenfalls für Altgeräte des Fabrikats Poliscan, sogar in [3.] widerspricht:
Verschärfend kommt zu dieser Fehlinterpretation des Messprinzips hinzu, dass z . B. die Hilfsgröße positionLastMeasurement, die in der Falldatei enthalten ist, trotz des suggestiven Namens nicht die Position des Fahrzeugs angibt, also des digitalen Modellobjektes, sondern die Koordinaten eines einzelnen Objektpunktes, der irgendwo am betreffenden Fahrzeug liegen kann. Aus dieser Hilfsgröße lassen sich somit weder Aussagen darüber ableiten, wo genau sich das Modellobjekt zu diesem Zeitpunkt befand, noch ob der mit diesen Koordinaten verortete Objektpunkt für die Messwertbildung verwendet wurde.
Es gibt aber noch weitere Probleme bei der Auswertung, die erhalten bleiben, selbst wenn die obigen Punkte geklärt werden könnten:
Die Genauigkeit der Positionsbestimmung. Es ist nicht bekannt, welche Fehler bei der Abstandsmessung auftreten. Die Positionswerte sind ja ausdrücklich nicht Gegenstand der Baumusterprüfbescheinigung, wie die PTB an diversen Stellen (exemplarisch [iii]) angibt.
Die überproportionale Auswirkung relativ geringer Fehler bedingt durch die teilweise geringe Extrapolationsstrecke im Vergleich zum Abstand.
Wenn diese Art der Bewertung genutzt wird, wird implizit unterstellt, dass die Entfernungsmessung zu Messbeginn korrekt erfolgte. Ansonsten fehlt bereits die ursprüngliche Koordinate für die weiteren Berechnungen und die Quantifizierung. Warum sollte jedoch gerade dieser Wert richtig sein?
Eine abweichende Position zeigt auch nicht zwingend einen Messfehler: Angenommen ein Fahrzeug wird von 50 m bis 20 m komplett korrekt getrackt und fährt 180 km/h. Die Fotofertigung findet nun bei 35 m statt (Autobahnsituation) und es ereignet sich eine Verzögerung von 0,01 s (es existiert keine Information, die diese Verzögerung ausschließt). Dann läge eine Fehlpositionierung von 0,5 m vor, bezogen auf 17,5 m also rund 3 %. Bei 0,02 s Verzögerung läge der vermeintliche Fehler bereits bei rund 6 % usw.
Es können also korrekte Messungen zu vermeintlich inkorrekten Bildern führen und umgekehrt können fehlerhafte Messungen zu vermeintlich korrekten Bildern führen.
Es ist aus technischer Sicht nicht erkennbar, wie die vorgeschlagene Vorgehensweise daher zu vernünftigen Ergebnissen führen soll.
Ergänzend bleibt anzumerken, dass auch die Verwischung des Begriffs Rohmessdaten, wie in [1.] leider vorangetrieben, abzulehnen ist. Die Rohmessdaten sind alle Daten, die das Messgerät ursprünglich als Basis der Messung und Ergebnis der zwingend notwendigen Analog-Digital-Wandlung ermittelt hat.
Es bleibt zu hoffen, dass das BVerfG in seiner anhängigen Entscheidung [iv], endlich für eine rechtsstaatlich tragbare Situation sorgen wird, in der Sachverständige nicht mehr gezwungen werden, auf solche fragwürdigen Hilfsberechnungen auszuweichen.
i Fotogrammetrische Auswertung von Geschwindigkeitsmessungen des Systems Vitronic Poliscan FM1, Markus Winninghoff, Roy Strzeletz, Thomas König und Sascha Koch VKU September 2021 Seite 288ff
ii https://www.ptb.de/cms/de/ptb/fachabteilungen/abt1/fb-13/ag-131/fb-13-stellungnahme.html
iii https://vut-verkehr.de/downloads/2017-04-19%20PTB%20PoliScan%20dienstliche%20Stellungnahme.pdf
iv Aktenzeichen 2 BvR 1167/20, vgl. https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Verfahren/Jahresvorausschau/vs_2021/vorausschau_2021_node.html, Nr. 47 des Zweiten Senats