Wie unter anderem der SR heute berichtet hat sich das OLG Saarbrücken doch noch dazu durchgerungen, sich mit einer Vorlage an den BGH zu wenden, um die seit 2019 bundesweit ungleiche Rechtslage bzgl. Rohmessdatenspeicherung klären zu lassen.
Zur Erinnerung: In 2019 urteilte der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes in einem wegweisenden Urteil (05.07.2019 Az.: Lv 7/17), dass eine Abspeicherung der Rohmessdaten essentiell sei für ein rechtsstaatliches und somit faires Owi–Verfahren.
Wenig überraschend begegneten nahezu alle Obergerichte außerhalb des Saarlandes diesem Urteil ablehnend.
Nun steht der endgültigen Klärung durch den BGH also nichts mehr im Wege und es bleibt zu hoffen, dass zumindest der BGH nicht dem falschen Narrativ der PTB aufsitzt, und eine Eignung der Rohmessdaten zur Überprüfung einer konkreten Einzelmessung negiert.
Die Fakten sprechen für sich.
Ein Verständnis dieser Fakten setzt jedoch eine klare begriffliche Abgrenzung voraus. Denn es ist allein diese fehlende (!) sprachliche Präzision, die die Argumentation von PTB und Herstellern (Rohmessdaten seien nicht geeignet, eine Messung zu überprüfen) aufrecht erhält.
Was ist damit gemeint?
Zunächst muss man verstehen, was genau die Rohmessdaten sind.
Der zitierte SR–Artikel deutet dabei in die richtige Richtung, aber die Rohmessdaten sind noch umfangreicher als dort beschrieben.
Jede Geschwindigkeits“messung“ läuft in drei Schritten ab und zwar zwangsläufig, denn Geschwindigkeiten kann man nicht messen. Nur berechnen. Und für eine solche Berechnung braucht man Daten, beispielsweise für die Messgrößen Weg und Zeit. Weil Weg durch Zeit gleich Geschwindigkeit: km/h.
Wo kommen die Daten her?
Aus dem ersten Schritt der Geschwindigkeits“messung“, der Datenerfassung.
Diese beginnt, wenn das zu messende Objekt (sprich Fahrzeug) erstmals vom Messgerät detektiert, also „gesehen“ wird. Sie endet, wenn das Fahrzeug den Detektionsbereich verlässt, also nicht mehr „gesehen wird“.
Die Gesamtheit der Signale, die zwischen diesen beiden Zeitpunkten vom Messgerät empfangen und dann notwendigerweise in digitale Daten umgewandelt werden, bildet die Rohmessdaten.
Es liegt also (zumindest für eine logische Sekunde) ein enorm großes Datenpaket vor.
Je nach Programmierung des Messgeräts (die in der Regel unter dem Stichwort Herstellergeheimnis unbekannt ist) folgt unmittelbar im Messgerät der zweite Schritt der Geschwindigkeits“messung“, die Datenselektion.
Dieser Schritt ist notwendig und sinnvoll und auch, wenn er von PTB und Hersteller mühsam verschwiegen und unter den Teppich gekehrt wird, gibt es genügend Beweise, dass dieser Schritt stattfindet.
Worum geht es?
Das große Datenpaket der Rohmessdaten (der „Videofilm“ der Vorbeifahrt des Fahrzeugs am Messgerät), enthält nicht nur genau die Daten, die benötigt werden, um eine Geschwindigkeit zu berechnen. Das Datenpaket enthält auch viele „Störsignale“. Informationen, die nicht nur nicht benötigt werden für die Berechnung, sondern diese tatsächlich verfälschen können.
Diese „Störsignale“ können z.B. andere Fahrzeuge sein, die sich gleichzeitig mit dem zu messenden Objekt durch den Detektionsbereich bewegen, man denke nur an eine viel befahrene Autobahn. Beim ES3.0 etwa verfälschen die sich drehenden Räder das Ergebnis, nähme man alle Rohmessdaten für die finale Berechnung.
Man muss also aus dem großen Datenpaket der Rohmessdaten ein kleineres Datenpaket formen. Man muss die Rohmessdaten trimmen. Die Daten wegschneiden, die man nicht benötigt, bzw. die das Ergebnis verfälschen würden. Man muss Daten selektieren.
Dieser wichtige (und äußerst komplizierte) zweite Schritt ist die Datenselektion.
PTB und Hersteller verschweigen diesen Schritt bei der Diskussion um den Nutzen der Rohmessdaten. Sie kaschieren ihn unter anderen Bezeichnungen, etwa wenn sie von der Konstruktion von „Modellobjekten“ sprechen (POLISCAN-Messgeräte). Außerdem stellen sie es so dar, als sei das kleinere Datenpaket (also das Ergebnis der Datenselektion) die Rohmessdaten, aber schon aus dem Geschriebenen geht hervor, dass dem nicht so sein kann.
Es ist dieser zweite Schritt, die Datenselektion, die fehleranfällig ist. Die schwer vorherzusagen ist, weil man bei der Konstruktion eines Messgeräts nicht alle Eventualitäten abschätzen kann, welche Signale beim Messgerät ankommen und „wegselektiert“ werden müssen.
Die LED–Problematik beim ES3.0 verdeutlicht diesen Umstand: Die weite Verbreitung dieser Lampen lag bei Konzeption des Messgeräts schlicht nicht vor. Das gepulste Licht der LEDs erzeugt andere Signale, als herkömmliche „Glühbirnen“. Der Selektionsalgorithmus konnte also überhaupt nicht wissen, was er mit dieser Art von Signal anfangen soll. Dass die Rohmessdaten geeignet sind, die Selektion nachträglich zu prüfen, hat der Hersteller in diesem Zusammenhang selbst bewiesen: Er baute nachträglich und softwareseitig eine Prüfung ein, die bei Auswertung der Falldateien nach eben diesen Signalen suchen und entsprechend beeinflusste Messungen verwerfen sollte.
An dieser Stelle sei auch auf den einzigen Fehler in dem SR-Bericht hingewiesen: Dort steht, dass kein Messgerät Rohmessdaten abspeichere. Das ist nicht korrekt. Der ES3.0 der Firma Kistler speichert die Rohmessdaten und anhand dieser Daten können wir immer wieder den Beweis einer „Fehlmessung“ erbringen. Indem wir eine eigene Selektion der Daten vornehmen und mit diesem eigens selektierten Datenpaket den dritten und finalen Schritt einer Geschwindigkeits“messung“ durchführen: Die Geschwindigkeitsberechnung.
Erkenntnis?
Knapp ein Drittel aller Messungen liefert ein um mindestens 1 km/h falsches Ergebnis.
Und die PTB?
Die ergeht sich weiterhin im semantischen Kniff, einfach das Ergebnis der Datenselektion als Rohmessdaten zu bezeichnen und (insoweit korrekt, weil auf falscher Prämisse beruhend) zu behaupten, mit diesen Daten (die ja überhaupt keine Rohmessdaten sind), sei keine Überprüfung der Messung möglich, man käme ja immer wieder auf das gleiche Berechnungsergebnis.
Es ist nicht nur frustrierend, sondern geradezu beschämend, dass sich die PTB bislang nicht mit der hier aufgeführten Argumentation beschäftigt hat, sondern sie immer wieder übergeht und ignoriert.
Es gab bislang eine einzige Situation, in der die PTB dieser Argumentation nicht ausweichen konnte: In der mündlichen Verhandlung vor dem Verfassungsgerichtshof des Saarlandes.
Wir empfehlen an dieser Stelle ausdrücklich die gesamte Lektüre dieses Urteils, steht sie doch wie eine Blaupause für ein faires und rechtsstaatliches Verfahren. LINK: https://vut-verkehr.de/downloads/05-07-2019%20Urteil%20VGH%20Saarland.pdf
Aber der entscheidende Punkt, den auch der BGH hoffentlich nicht übersehen wird: Zwei unabhängige Sachverständige haben in dieser Verhandlung ausgeführt, dass und warum die Rohmessdaten für eine nachträgliche Prüfung einer Einzelmessung das einzige und geeignetste Mittel sind. Konkret:
Vorhandene Rohmessdaten erlaubten zugleich, mögliche Irregularitäten einer konkreten Messung zu erkennen.
Und der Sachverständige Ratschko der PTB, der als dritter Sachverständiger in diesem Verfahren geladen war?
Der Sachverständige Dr. Ratschko ist dem nicht entgegengetreten.
Beachtet der BGH also diesen unwidersprochenen Punkt (Rohmessdaten ermöglichen eine Überprüfung), kann es hinsichtlich der Notwendigkeit der Abspeicherung von Rohmessdaten nur zu einer Entscheidung kommen.
Und insofern würde eine entsprechende Entscheidung auch nicht den Hinweisen der aktuellen (unvollständigen) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Rohmessdaten widersprechen. Denn in seinen Andeutungen geht das BVerfG der Argumentation der PTB (wiedergekaut von vielen Obergerichten) auf den Leim, dass Rohmessdaten gerade keinen Nutzen für eine nachträglich Überprüfung eines Messwertes lieferten.
Diese Ansicht ist aber widerlegt.