03.06.2022
Die Zukunft des standardisierten Messverfahrens und der amtlichen Verkehrsüberwachung in Deutschland – Eine sachverständige Interessenerklärung


Nicht erst durch die jüngeren Entscheidungen des BVerfG, die umfassenden Probleme eines namhaften und viel eingesetzten Verkehrsüberwachungsgeräts, Erkenntnisse aus Versuchsreihen mehrerer Sachverständigengruppen, unsere eigenen Untersuchungsergebnisse und in Anbetracht anstehender Entscheidungen der obersten Gerichtsbarkeiten des Bundes, sowie Bestrebungen einer Kodifizierung der Verfahrensparameter, halten wir es für angebracht, unsere Position als Sachverständige hinsichtlich des verkehrsrechtlichen OWi-Verfahrens zu fixieren und Forderungen an eine anstehende Kodifizierung zu formulieren.

Sachverständige werden von Gerichten und Anwälten beauftragt, um eine Geschwindigkeitsmessung zu begutachten. In Anbetracht der in den weiterführenden Links dargelegten Fehlermöglichkeiten bei Verkehrsmessungen und rechtsstaatlichen Grundlagen des OWi-Verfahrens müssen aus unserer Sicht vollumfängliche Überprüfungen (keine Plausibilisierung) ermöglicht werden.

Abgesehen von Messarten (bspw. Handlaser), bei denen Zeugenaussagen des Messpersonals ganz erhebliche Bedeutung beizumessen ist, kann nach einer vollumfänglichen Begutachtung einer Geschwindigkeitsmessung eine längerfristige Hauptverhandlung vermieden oder in dieser substantiiert vorgetragen werden. Die nachfolgenden Empfehlungen dienen mithin auch der Prozessökonomie.

Folgende Informationen sind daher (unabhängig vom formalen Aktenbegriff) für eine umfassende technische Analyse zwingend notwendig:

Bei dieser Auflistung erscheinen, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Kodifikation, zwei Punkte als erläuterungsbedürftig. Bezüglich dieser beiden Punkte lässt sich über die vergangenen Jahre feststellen, dass unzählige differierende Meinungen über Inhalt, Ausgestaltung, Notwendigkeit und Nutzen der Begrifflichkeiten herrscht. Wir regen daher nachdrücklich an, die folgende Definition bei einer eventuellen Kodifikation als Legaldefinition in den Gesetzestext aufzunehmen.

 

(Legal-)Definition Rohmessdaten:

Ein Messvorgang ist dabei der Zeitraum zwischen Einfahrt in und Ausfahrt aus dem Erfassungsbereich des Messgeräts durch ein Messobjekt. Rohmessdaten sind dabei alle Daten, die die Hardwaresensoren des Messgeräts bei der physischen Detektion eines Messvorgangs generieren und so die Grundlage der weiteren Verarbeitung des Messgeräts bilden. Sie sind in diesem Zustand – ausgenommen von den technisch notwendigen Filtervorgängen der Analog-Digital-Wandlung – unselektierte, ungefilterte oder anderweitig verändert. Allenfalls können sie durch Metadaten erweitert werden.

 

Erläuterung:

Aus verschiedenen Veröffentlichungen von Herstellern, PTB und sich aus ihnen rekrutierenden Interessenvertretungen (z.B. BVST) lässt sich rekonstruieren, dass diese Akteure von folgendem Ablauf während eines Messvorgangs ausgehen und ihre Begrifflichkeiten angepasst an diesen Ablauf nutzen:

 

Geschehensablauf ► Detektion ► Analog-Digital Wandlung ► Nicht bezeichneter Zustand ► digitale Verarbeitung ► „Rohmessdaten“ ► Zuordnung ► Berechnung

 

Wir legen all unseren Überlegungen jedoch folgenden Ablauf und daran angepasste Begrifflichkeiten zu Grunde:

 

Geschehensablauf ► Detektion ► Analog-Digital Wandlung ► Rohmessdaten ► digitale Verarbeitung (z.B. Selektion) ► selektierte Daten ► Zuordnung ► Berechnung

 

Der entscheidende Unterschied liegt im Schritt nach der (zwingend notwendigen) Analog-Digital-Wandlung. Teilweise geht man also davon aus, dass nach der Wandlung eine digitale Verarbeitung der Signale stattfinde. Erst dann lägen die Daten als „Rohmessdaten“ vor.

Schon von der Logik der Begrifflichkeit ist jedoch nicht ersichtlich, warum die Daten erst nach dieser digitalen Verarbeitung als Rohmessdaten bezeichnet werden sollen, insbesondere, da nicht spezifiziert ist, was genau bei dieser Verarbeitung geschieht und zu welchem Zweck. Es ist jedoch davon auszugehen, das dieser Schritt bereits eine für die Messwertbildung absolut maßgebliche Verarbeitung der Daten beinhaltet. Es findet eine Selektion aus der Gesamtmasse aller Rohmessdaten statt. Es werden die Daten selektiert, die man für die Geschwindigkeitsberechnung heranziehen will. Eine solche Selektion ist grundsätzlich auch notwendig, denn es müssen z.B. Störsignale (wie sich drehende Räder beim ES3.0) aus der Berechnung des Geschwindigkeitswertes ausgenommen werden.

Es wird also schnell deutlich, dass die verschiedenen Parteien nicht von den sachverständigenseits geforderten Rohmessdaten sprechen, sondern mit „Rohmessdaten“ bereits eine verarbeitete Auswahl an Daten meinen, die dann in die Geschwindigkeitsberechnung einfließen. Insofern ist auch das immer wieder vorgebrachte Argument verständlich, dass Rohmessdaten ungeeignet seien eine Messung zu überprüfen, denn die Berechnung müsse zwangsläufig zum gleichen Ergebnis wie beim Messgerät führen. Hinsichtlich dieses aus unserer Sicht falschen „Rohmessdaten“-Begriffs ist dem zuzustimmen.

 

Vereinfachendes Beispiel:

4 + x = ?

 

Setzt man für den Wert x das „Rohmessdatum“ 1 ein, so lautet das Ergebnis der Berechnung 5. Egal wie oft die Berechnung durchgeführt wird.

Nach der Analog-Digital-Wandlung liegen aber die Rohmessdaten 0, 1, 2, .... vor. Und erst durch die digitale Verarbeitung (sprich Selektion), gelangt das Messgerät zu dem Ergebnis, dass 1 der maßgebliche Wert für die Berechnung der Geschwindigkeit ist.

Dieser Schritt der Selektion muss überprüfbar gemacht werden. Das kann er aber nur und einzig dadurch, dass alle Rohmessdaten – also das Ergebnis der Analog-Digital-Wandlung (siehe Definition) – vollständig für eine Überprüfung offen gelegt werden.

Zukünftig finden Sie daher in all unseren Gutachten eine genaue Erläuterung, aus welche Daten und Informationen sich beim konkret eingesetzten Messgerätetyp die Rohmessdaten zusammensetzen.

Weiterhin ist in § 31 (2) Nr. 4 MessEG das Führen von Nachweisen über Arbeiten an Messgeräten verankert.

Hiermit sollte eine kodifizierte Grundlage für ansonsten in technischen Normen gefasste Vorgaben zur Qualitätssicherung geschaffen werden.

Im Anhang B zur DIN EN ISO 9001:2015 (Qualitätsmanagementsysteme – Anforderungen), Bestandteil der ISO-9000-Serie, findet sich ein Verweis auf die ISO 10012.

Diese bietet Qualitätsmanagementkriterien für ein Messmanagementsystem, um die Einhaltung der metrologischen Anforderungen sicherzustelleni.

Gemäß DIN EN ISO 10012:2003, Pkt. 6.2.3, „müssen Aufzeichnungen mit Informationen, die für den Betrieb des Messmanagementsystems erforderlich sind, aufrechterhalten werden“ii.

In der dazu dokumentierten Anleitung finden sich Erläuterungen zum Umfang der aufzuzeichnenden Dokumente:

 

"Beispiele für Aufzeichnungen sind Ergebnisse von Bestätigungen, Messergebnisse, Kauf, Betriebsdaten, Fehlerdaten, Kundenbeschwerden, Schulung, Qualifizierung oder jegliche weitere Verlaufsdaten, die den Messprozess unterstützen."

 

Diese Formulierung aus der einschlägigen Norm kann nach unserem Dafürhalten dazu dienen den Umfang der aufzuzeichnenden Daten zu skizzieren.

Würde man die Vorschläge aus [ii] befolgen so könnte der Arbeitsaufwand für Auskünfte beträchtlich vermindert werden und es läge eine technisch zielführend prüfbare Grundlage für die Bewertung der Zuverlässigkeit eines Messgerätes vor.

Als zusätzlichen Vorteil könnte es der Betreiber ansehen, eine technisch unschätzbar wertvolle Aufzeichnung über das Verhalten seiner Messgeräte zu erhalten, die ihm zukünftige Beschaffungsentscheidungen, aber auch die Bewertung, welches Messgerät wo eingesetzt wird, deutlich vereinfachen würde.

 

iDIN-Taschenbuch 226 „Qualitätsmanagement“ QM-Systeme und -Verfahren, 9. Auflage 2015, Beuth Verlag GmbH

iiAllgemeine Stellungnahme zu Lebensakten oder Nachweisen nach § 31 (2) Nr. 4 MessEG VUT